Wie entstand die älteste Schrift der Welt? Entscheidende Hinweise darauf haben nun Archäologen auf gut 6.000 Jahre alten Tonsiegeln aus Mesopotamien entdeckt. Einige der auf diesen babylonischen Siegeln dargestellten Figuren und Objekte zeigen demnach große Ähnlichkeit mit späteren Proto-Keilschrift-Zeichen. Dies legt nahe, dass sich die erste Schrift aus solchen „Etiketten“ für Handelswaren wie Textilien und Lebensmittel entwickelt haben, wie das Team in „Antiquity“ berichtet.
Die Erfindung der Schrift war einer der Meilensteine der Menschheitsgeschichte. Die standardisierten Symbole ermöglichten eine effiziente Kommunikation über weite Entfernungen hinweg, halfen bei der Auszeichnung von Waren oder dem Niederschreiben von wichtigen Begebenheiten und Erkenntnissen. Frühe Formen der Schrift gab es vor rund 5.000 Jahren in der Indus-Kultur und in Ägypten. Vor rund 4.000 Jahren entwickelten die Minoer gleich zwei bisher nicht entzifferte Schriftsysteme, die als die ältesten Europas gelten.
Wie entstand die Proto-Keilschrift?
Doch die älteste Schrift der Welt entstand – wie so vieles – wahrscheinlich in Mesopotamien. Dort nutzten die Menschen schon vor mehr als 5.600 Jahren standardisierte Symbole, die sie in den feuchten Ton von Siegeln, kugelförmigen „Etiketten“ und Schrifttafeln prägten. „Diese Proto-Keilschrift ist auf Tontafeln in Uruk um 3350 bis 3000 vor Christus nachweisbar“, berichten Kathryn Kelley und ihre Kollegen von der Universität Bologna. „Damals gab es dort bereits ein komplexes System von hunderten ikonografischen Zeichen, von denen viele noch nicht entschlüsselt sind.“
Schon länger vermuten Archäologen, dass sich diese erste Proto-Keilschrift aus noch figürlichen Vorläufern entwickelt hat. Als Kandidaten dafür gelten die Symbole auf mesopotamischen Zählmarken, mit denen Waren und Gütermengen gekennzeichnet wurden. Auch die Figuren auf mesopotamischen Siegelzylindern könnten Vorläufer der späteren, stark stilisierten Keilschrift-Runen gewesen sein.
Motivvergleich von Siegelzylindern und Schriftsymbolen
Das Problem jedoch: „Die enge Beziehung zwischen den Siegeln und der Erfindung der Schrift in Südwestasien wurde schon früh erkannt. Unklar war aber, wie spezifische Siegelbilder mit den Proto-Keilschrift-Symbolen zusammenhängen“, sagt Seniorautorin Silvia Ferrara. Sie und ihr Team haben deshalb die Motive auf mesopotamischen Tonsiegeln aus Uruk noch einmal systematisch mit den bisher bekannten rund 800 Proto-Keilschrift-Symbolen verglichen.
„Wir konzentrierten uns dabei auf die Siegel-Motive, die schon vor Erfindung der Schrift existierten“, erklären die Archäologen. Weil die Interpretation der Bilder und ihrer möglichen Bedeutung zudem oft schwierig und mehrdeutig ist, bezogen sie den inhaltlichen Kontext der Siegel und Proto-Keilschrift-Symbole mit ein.
„Stange mit Netz“ und Fransentuch
Tatsächlich wurden die Archäologen fündig: „Wir haben eine Reihe von Siegelmotiven aus dem Kontext des Textilhandels und der Keramikherstellung identifiziert, aus denen später entsprechende Proto-Keilschrift-Symbole entstanden“, berichtet Kelley. So findet sich ein häufig zusammen mit Rinder-Abbildungen auf den Siegeln erscheinendes fächerartiges Objekt auch in der Proto-Keilschrift wieder. Dort erscheint dieses „Stange mit Netz“-Symbol ebenfalls meist gemeinsam mit den Schriftsymbolen für Rinder.
„Ein ähnlich überzeugender Fall für die Umwandlung vorschriftlicher Verwaltungssymbole in Proto-Keilschrift findet sich bei einem weiteren Motiv-Paar“, berichtet das Archäologenteam. Dabei handelt es sich um die Siegel-Darstellung eines Tuchs mit Fransen, aus dem später das Keilschriftsymbol für „Leinen“ wurde. Ein anderes Motiv zeigt ein Gefäß mit Netzstruktur, das der Vorgänger des Keilschrift-Symbols für Gefäße mit Ölen sein könnte.
Zeugnis für den Übergang zur Schrift
Damit belegen diese Übereinstimmungen zum ersten Mal eine direkte Verbindung zwischen dem System der Siegelzylinder und der Erfindung der Schrift. „Unsere Funde demonstrieren, dass die auf die Siegelzylinder gravierten Motive direkt mit der Entwicklung der Proto-Keilschrift im Südirak verknüpft sind“, sagt Ferrara. Die entdeckten Übereinstimmungen geben zudem Einblick darin, wie sich die Bedeutung der Motive veränderte, als sie Teil der Schrift wurden.
„Der konzeptuelle Sprung vom vorschriftlichen Symbolismus zur Schrift ist eine bedeutende Entwicklung in den kognitiven Technologien der Menschheit“, erklärt Ferrara. „Die Erfindung der Schrift markiert den Übergang zwischen Vorgeschichte und Geschichte – und die Resultate unserer Studie illustrieren, wie dieser Übergang stattfand.“ Gleichzeitig könnten die Parallelen zwischen Siegelmotiven und Proto-Keilschrift auch dabei helfen, einige der noch nicht entschlüsselten Symbole zu entziffern. (Antiquity, 2024; doi: 10.15184/aqy.2024.165)
Quelle: Antiquity, Università di Bologna